Inspirational Quotes #6

„Deshalb müssen Gewerkschaften und Arbeiter sich weigern, auch nur das geringste Zugeständnis an den „Teamgeist“ zu machen, den die Arbeitgeber verbreiten. Die Arbeiter müssen sich systematisch weigern, auch nur die geringste Verantwortung für die Leitung kapitalistischer Unternehmen und die kapitalisti- sche Wirtschaft zu übernehmen. Kontrolle, um sie herauszufordern, ja; Beteiligung an oder Teilhabe an der Leitung, nein. Darin liegen die Interessen der Arbeitnehmer. … „Beteiligung“ bedeutet: die Arbeiter mit dem Kapital in Verbindung zu bringen; geheime Absprachen mit dem Kapital zu akzeptieren, ständige geheime Treffen, wirtschaftliche „Koordinierungs“-Ausschüsse und sogar „Kontrollausschüsse“ (wie im Gas- und Elektrizitätssektor), in denen die Arbeiter eigentlich gar nichts kontrollieren, sondern in den Augen der öffentlichen Meinung für die exorbitanten Tarife und die fetten Profite der Monopole mitverantwortlich werden. „Arbeiterkontrolle“ bedeutet: volle und vollständige Offenlegung; Erörterung aller „Geheimnisse“ des Unternehmens und der Wirtschaft vor den Hauptversammlungen der Arbeiter; Aussperrung aller komplizierten Maschinerie der kapitalistischen Wirtschaft; „illegale“ Einmischung der Arbeiter in alle Vorrechte von Eigentum, Management und Staat. Dies an sich bedeutet die Geburt einer neuen Art von Macht, unendlich demokratischer und gerechter als die der bürgerlichen „Demokratie“, einer Macht, in der alle Arbeiter (85 Prozent der aktiven Bevölkerung dieses Landes) gemeinsam die Entscheidungen treffen würden, die ihr Schicksal bestimmen“.

Ernest Mandel, The Debate on Workers’ Control, December 1968/January 196

Inspirational Quotes #5

„Die Gewerkschaften halten sich an das Richterrecht und rufen daher grundsätzlich nicht zu politischen Streiks auf. … Dieses Recht auf Schadenersatz bestreikter Unternehmen geht wesentlich zurück auf das Engagement des 1968 gestorbenen Rechtsprofessors Hans Carl Nipperdey, insbesondere auf dessen Gutachten zu einem großen Zeitungsstreik 1952. Er war sehr stark in der nationalsozialistischen Rechtswissenschaft engagiert, wurde aber dennoch erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts, wo er dann seine Auffassung zum Streikrecht in Urteilen durchsetzte. Bsirske [Verdi /die Grünen] sagt nun dazu: „Ob das auf Dauer Bestand haben wird, das bleibt mal sehr abzuwarten.“

Bild.de, 19.9.2019

Inspirational Quotes #4

Die kollektivierten Firmen wurden von Fabrikräten geleitet, in denen sowohl Hand- wie Kopfarbeiter vertreten waren und in einigen wenigen Fällen auch die früheren Besitzer. Diese Räte wurden auf Massenversammlungen oder aus den bestehenden Gewerkschaftsgruppen gewählt. … Es gab auch Unterkommittees, die sich mit den verschiedensten Aspekten der Leitung der Kollektive befassten. …Trotz aller Hindernisse waren viele Kollektive überraschend effizient, vor allem wenn sie sich zu Assoziationen zusammengeschlossen hatten. Neben den sich im Allgemeinen verbessernden Arbeitsbedingungen wurden auch administrative und strukturelle Reformen durchgeführt. … Es gab auch einen drastischen Abbau von Zwischenhändlern: Produzenten und Konsumenten kamen in engen Kontakt. Forschung wurde angeregt, aber auch der Ersatz von Einfuhren, um dem Zusammenbruch des Handels zu begegnen. In einigen Fällen waren die Fabriken und die Lager, als sie nach dem Krieg ihren früheren Besitzern zurückgegeben wurden, in einem besseren Zustand als vor der Übernahme durch die Beschäftigten.

Andy Durgan, Arbeiterdemokratie in der spanischen Revolution 1936/1937, in Dario Azzellini/Immanuel Ness (Hg.), „Die endlich entdeckte politische Form“, Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute, Köln 2012, 198

Inspirational Quotes #3

Höchste Produktivität bedeutet Wegfall des Machtmonopols einer hierarchischen Spitze oder eines bürokratischen Zentrums … Selbstregelung und Selbstkontrolle an allen Punkten des Betriebes garantieren die leichteste, billigste und schnellste Behebung innerer und äußerer Störungen gerade an den Stellen, an denen sie auftreten, durch die direkt Beteiligten selbst. Das ist aber nur möglich, wenn die Praxis der Arbeiter und Angestellten einen größeren als den zentral reglementierten Spielraum enthält, wenn schöpferische Kooperation aus eigener, nicht zentral verwalteter Initiative sich organisieren und auch bestimmend auf die inneren Instanzen einwirken kann.

Günter Hillmann, Die Befreiung der Arbeit. Die Entwicklung kooperativer Selbstorganisation und die Auflösung bürokratisch-hierarchischer Herrschaft, Hamburg 1970

Eine Arbeiterverschwörung

Erfahrungsbericht von Organisierung am Arbeitsplatz

 

1

Ich will von ein paar Erfahrungen aus dem Arbeitsleben reden, die vermutlich nicht grundsätzlich verschieden sind von den Erfahrungen, die viele machen. Aber ich finde selten, dass über solche Erfahrungen viel gesprochen wird, oder dass besonders viele Schlüsse aus ihnen gezogen werden. Ich weiss nicht, ob eine gewisse Scheu davor besteht, über solche anscheinend banalen Dinge sich grosse Gedanken zu machen. Auch ich hätte vermutlich nicht viel nachgedacht, wenn nicht eine Reihe von Zufällen aus diesen kleinen Dingen solche gemacht hätten, die beinahe, aber nur beinahe aussehen wie ganz andere, viel grössere Dinge.

Einer dieser Zufälle besteht darin, dass ich recht gleichzeitig allerhand Sachen über ganz ähnliche Entwicklungen gelesen habe und deswegen aufmerksam gewesen bin. Ein anderer dieser Zufälle besteht darin, dass ich aus ganz anderen Gründen einige Zeit vorher beschlossen hatte, wieder gewerkschaftlich aktiv zu werden, dieses Mal in der FAU.

Ich arbeite seit längerer Zeit in der Gastronomie in verschiedenen Städten und bin wie viele mehr oder weniger aus dem Studium dorthin gekommen, mehr oder minder auch über die linke Szene, die soweit es mich betrifft eigentlich eine Sparte der Gastronomie ist. Die Regeln, nach denen in der Gastronomie gearbeitet wird, sind meistens ziemlich abenteuerlich, mit dem Arbeitsrecht hat das kaum etwas zu tun, und gewerkschaftliche Organisierung gibt es nicht. Die Branche gilt, soweit ich es vom DGB von früher kenne, als eigentlich unorganisierbar, wegen der hohen Fluktuation, den vielen studentischen Beschäftigten, und der kleinteiligen Struktur; und wegen einiger Eigenheiten der Entlohnung, wie dem Trinkgeld, und der endemischen Schwarzarbeit in der Branche.

Die Chefs sind gewöhnlich die grössten Narren, die man finden kann. Der vorherrschende Typus schwankt zwischen kleinlichem, jähzornigem Tyrann und saufseligem Kumpel; es gibt jede Übergangsform, und die meisten sind abscheulich. Alle haben sie gemeinsam, dass sie anscheinend durchdrungen sind von dem Gefühl, ihre Läden seien irgendwie einzigartig, etwas besonderes, und das sei ihre persönliche Leistung. Es ist leicht zu sehen, dass sie das glauben müssen, weil ihre Läden in der Regel im Gegenteil völlig austauschbare Saufbuden sind, an deren Besuch man sich in der Regel am nächsten Tag nur mühsam erinnert. Sie unterscheiden sich in der Tat nur durch diese Jukebox in der Ecke oder jenen modischen Gin, den tatsächlich der Chef irgendwann einmal angeschleppt hat, um sich einbilden zu können, er definiere eine Marke und verkaufe mehr als das, was er wirklich verkauft.

Ich hatte eine Weile in einem Laden in der Küche gearbeitet, der schlimm unterbesetzt war, weil natürlich niemand für den Sommer genug Leute eingestellt hatte, so dass wir im Prinzip eineinhalbfache Arbeit hatten. Unser Chef hielt es meistens nicht für nötig, den Leuten ihr Geld zu zahlen. Nicht, dass das Geld nicht dagewesen wäre, er schaffte es nur nicht zu begreifen, dass es uns wichtig war, unsre Miete zu zahlen. Das machte der just in solchen Monaten, wo sein Laden einen so sehr beschäftigte, dass man nicht woanders arbeiten konnte. In solchen Situationen denkte man sich zuerst Taktiken aus, wie man aus dem Laden herauskommt, ohne dem Geld dann noch lang hinterherlaufen zu müssen.

2

Es war irgendwann an einem dieser heissen Abende, wo ich mir begann, vorzustellen, wie das knallen würde, wenn man einmal streikte. Man müsste das machen beim Wechsel zur Abendschicht; tagsüber arbeiteten die Schichtleiter, abends wir Knechte. Und zur Übergabe sass der Biergarten richtig voll. Da auftauchen, Kasse zählen, und dann, wenn der Schichtleiter übergeben will, stattdessen raus, 50 Leute mit Spruchbändern um den Biergarten stellen, ein paar Durchsagen über einen grossen Lautsprecher, eine halbe Stunde solcher Spass würde schon sehr viel ausrichten.

Aber wie kriegt man denn alle dazu, mitzumachen? Wir paar fingen schnell an, auf einem anderen Weg zu diskutieren, und dachten über einen Betriebsrat nach. Dazu brauchten wir bloss drei Leute. Das verführerische daran ist das einfache daran. Aber wie sollten die drei Leute sich denn halten können? Wir würden einen harten und einsamen Kampf zu führen haben, wir würden auch auf einmal keinen Handgriff mehr richtig machen können. In Läden wie diesen ist nichts leichter, als Fehler zu finden, und ein und dieselbe Art zu arbeiten ist entweder Anlass zu Belobigung oder zu Kündigung. Das Problem, die anderen mit hineinzuholen, wäre auf diesem einfachen Weg in Wahrheit nur viel schwieriger geworden. Und über solche Gedanken bröckelte auch die anfängliche Einigkeit unter uns paaren wieder ab, und die aktiveren gingen und suchten sich, als es Zeit war, etwas anderes.

3

So kam ich dann zu dem anderen Laden, um den es hier geht. Da war seit kurzem ein neuer Chef drauf, ich hatte in dem Laden schon früher gearbeitet unter der alten Chefin, und hatte ein paar Erfahrungen gemacht. Die Kollegen dort hatten damals ein sehr ausgeprägtes System von Zusammenarbeit gepflegt, sie nahmen Neueingestellte wie mich sehr freundlich, aber bestimmt in ihre Mitte und erklärten ihnen, wie der Laden lief, und man verstand es sehr schnell. Entweder man vertraute einander, oder die Chefin würde einen gnadenlos über den Tisch ziehen. Das Vertrauen wurde nur um so tiefer, je mehr man gemeinsam trank. Aber wir arbeiteten auch irrsinnig hart und hielten einen Laden im Gange, der eigentlich an allen Ecken auseinanderzufallen schien.

Jetzt hatte ich dort wieder angefangen, von den Alten war fast keiner mehr dabei, aber der Laden war immer noch der gleiche. Es war fast ein bisschen gespenstisch, weil nur eine sehr langjährige Kollegin und dann eben zufällig ich noch da waren, die bei bestimmten Dingen wussten, warum sie so waren, wie sie waren. Und diese Gründe waren immer kurios und meistens fast unglaublich.

Das erste, was mir auffiel, war, dass die neue Belegschaft vollkommen wahllos zusammengewürfelt aussah. Ich konnte mir nicht vorstellen, was der neue Chef sich dabei gedacht hatte. Chefs in der Branche haben für gewöhnlich ein Beuteschema. Das zweite aber war, dass die Leute manchmal unglaublich schlecht eingelernt waren, und dass alle Geräte auf merkwürdige, fast zweckentfremdende Weise benutzt wurden. Der Grund dafür war zweifach: erstens waren die Geräte alle ein bisschen kaputt, und zweitens hatte der Chef die Leute von seiner Freundin einlernen lassen, die in seinem zweiten Laden die Chefin war.

Ich will nicht zuweit ausgreifen, und vielleicht hatte diese fast-Chefin ja auch irgendwelche guten Seiten an ihr, aber der Effekt, den sie in dem Laden hinterliess, war, dass sie überall Unzufriedenheit erzeugte. Sie fuhrwerkte überall herum und traf allerhand Anordnungen, die oberflächlich betrachtet sinnvoll erschienen, aber genauer betrachtet völlig unsinnig und undurchführbar waren. Und das war, wie ich dann zuletzt begriff, die genaue Folge davon, dass der Laden auf fast spektakuläre Weise desorganisiert war.

4

Ich hatte in dem vorigen Laden betreffs unserer Organisationsversuche allerhand Diskussionen geführt, und hatte mich von der FAU beraten lassen, da gibt es eine ganze Reihe von Literatur, die in der Organisation benutzt wird, das sind auch wirklich sehr kluge Sachen, aber es hatte nicht recht funktionieren wollen. Und ich war in diesen anderen Laden gegangen schon auch deswegen, weil ich irgendwie unbewusst an diese früheren Zeiten dort anknüpfen wollte; vielleicht war da noch ein Rest davon da. Aber nichts hatte mich darauf vorbereitet, dass da eine Theke war, die einfach so wie sie war nicht funktionieren wollte.

Ich fing also zuerst einmal an, mir von allen ausführlich erklären zu lassen, wie sie alles machten, und ihre Meinungen dazu, warum alles nicht so recht funktionierte. Es war meistens recht einfach herauszufinden, und es war meistens auch recht einfach, sich bessere Lösungen auszudenken und die unter die Kollegen zu tragen. Früher oder später hatte man dann in Ansätzen so etwas wie ein Konzept, wie man Dinge tut, ohne anderen Leuten dabei in die Quere zu kommen und ohne sich doppelte Arbeit zu machen und so weiter.

Was diese Aufgabe etwas schwerer machte, war, dass unser Chef sich auch dachte, genau so etwas zu Stande zu bringen. Er dachte sich das so, dass er monatlich alle Mitarbeiter, nach Theke und Küche getrennt, zusammenholte, den Schichtplan besprach, und allen sagte, was alles falsch läuft und dass das anders werden muss. Und er erwartete, dass das irgendwie funktioniert, dass also die Leute in seiner Gegenwart offen sagen, warum die Dinge falsch laufen und wie man es besser macht. Das geschah auch regelmässig, nämlich indem jeder einmal, höchstens zweimal auf diesen Gedanken kam, aber danach nicht mehr. Denn es zeigte sich, dass meistens der Grund, warum irgendetwas falsch läuft, eine seiner Anordnungen war, und dass wirklich jeder Vorschlag, wie es besser ginge, ihn zur Weissglut brachte.

Das Ergebnis war, dass unsere Arbeit anstrengender war, als sie sein müsste, und dass regelmässig Dinge vorkamen, die ihm Anlass gaben, uns alle zusammenzufalten. Wie das aussah, das macht man sich am besten an ein paar einzelnen Beispielen deutlich. Zum Spülen der Gläser sollten wie einen sogenannten Spülboy verwenden. Diese Dinger kann man mit einem Steckverschluss von der Leitung abnehmen, auseinanderbauen und am Ende des Tags in die Spülmaschine stecken. Dieser Steckverschluss war kaputt, und war vor langer Zeit durch eine Schlauchschelle ersetzt worden, die festgerostet war, so dass das Ding mehr oder weniger unveränderlich an der Leitung sass. Es war erstens nicht mehr gut zu reinigen. Aber es fehlte ausserdem zweitens anscheinend ein Teil im Zulauf, so dass kein Wasser in den Spültopf nachlief und man das Ding nicht benutzen konnte wie vorgesehen, sondern es gab eine nicht sehr intuitive Weise, wie man es irgendwie doch benutzen konnte. Die Chefs liessen den Leuten immer eine andere Weise beibringen, die oberflächlich so aussah wie in der Anleitung, aber wo die Gläser nicht sauber wurden. Wenn man ihnen das sagte, verstanden sie es nicht. Denn es war doch wie in der Anleitung. Wenn man ihnen sagte, dass das nicht geht, weil ein Teil fehlt, sagten sie, aber wenn das Ding kaputt ist, wie kann es dann sein, dass ihr anderen die Gläser immer gespült bekommt? Weil wir es anders machen als ihr es sagt, und weil wir es allen mühsam anders beibringen, als ihr es ihnen falsch beigebracht habt.

Wenn sie darüber nachdachten, wurde es nicht besser davon. Denn sie brachten das nur auf folgende zwei Weisen in ihren Kopf: entweder hatte man ihnen vorenthalten, dass das Gerät kaputt ist, dann waren wir daran schuld, wenn die Gläser schmutzig waren. Oder aber wir hielten hartnäckig daran fest, die Gläser auf eine andere Weise zu spülen, als sie es uns gesagt hatten, auch dann waren wir daran schuld, wenn die Gläser schmutzig waren. Den Vorschlag, einfach einen neuen Spülboy für 90 Euro zu kaufen, wiesen sie brüsk von sich, das wäre pure Verschwendung, solange der alte nicht kaputt ist. Und kaputt kann er nicht sein, wie hätten wir sonst die ganze Zeit die Gläser gespült? Es ist einfach eine andere Art Mensch, man kann mir sagen, was man will.

Ich war in der Zwischenzeit von diesen Leuten zum Leiter des Tresens gemacht worden, weil ich mich so verdächtig gründlich um solche Sachen kümmerte, und weil ihnen auch klar war, dass irgendjemand diesen ganzen Schmarrn organisiert bekommen musste, und sie wollten vor allen Dingen auch nicht die Schichtpläne machen müssen. Es war mir aber, und von den anderen auch welchen, spätestens bei der Geschichte mit dem Spülboy klar geworden, wie der Hase läuft. Es ist von diesen Leuten einfach keinerlei Hilfe, nicht einmal Verständnis zu erwarten. Sondern wir arbeiten um Probleme herum, die sie uns in den Weg legen, und wenn sie das herauskriegen, scheissen sie uns zusammen. Es ist keine Verständigung mit ihnen möglich. Es gab einfach nur eine denkbare Lösung, nämlich ihnen von vorneherein so etwas gar nicht erst zu sagen.

5

Die bittere Wahrheit an dieser unbegreiflich eskalierten Spülboy-Geschichte ist natürlich ganz einfach zu begreifen. Das Ding hat vielleicht einmal funktioniert, irgendwann ging es kaputt, und die Kollegen haben dann das getan, was man immer tut, nämlich improvisieren. Auf irgendeine Weise kann man das schon machen, und es gibt viele unterschiedlich schnelle und unterschiedlich hygienische Weisen, wie das gemacht werden kann. Das ist erst einmal auch kein Problem, solange man offen darüber reden kann. Aber dazu müsste man zugeben, dass genau das auch immer gemacht wird. Es wird immer improvisiert, in dem Sinne, dass jeder alle Dinge anders tut, nämlich so, wie sie ihm in die Hand stehen. Auch wenn die Geräte alle funktionieren, ist das so. Wenn man das aber zugibt, gibt man zu, dass in einem solchen Laden die Rolle des Chefs eigentlich die ist, einmal die Woche das Geld aus dem Safe zu holen und ansonsten den Leuten am besten nicht im Weg herumzustehen.

Gott alleine weiss, warum sie das nicht einfach tun. Stattdessen müssen sie sich einbilden, einen unverzichtbaren Beitrag zu dem Laden zu leisten, einen ganz besonderen Ort zu schaffen, eine Marke zu definieren usw. Das ist gar nicht einmal nur in der Gastronomie so, sondern das scheint mir überall so zu sein.

Was in unserem Laden alles nicht funktionierte, war natürlich nicht alles so einfach auf die stillschweigende Weise unter Kollegen zu reparieren. Es lief alles nach genau derselben Logik, und es waren ein paar Dinge schon viel weiter eskaliert und nicht mehr leicht einzufangen. Einige davon holten wir dadurch ein, dass wir unsre stillschweigende Art der Kooperation weiter ausbauten. Ein paar davon hatten mit der Kasse zu tun. Ich kannte die Kasse noch von früher, es waren ein paar Dinge darüber, wie man sie bedient, in Vergessenheit geraten. Die Abrechnung war etwas komplexer, es gab ein paar Fehlerquellen durch die neu eingeführte EC-Karten-Abrechnung. Das produzierte öfter fehlerhafte Abrechnungen, die unsern Chefs die Gelegenheit gaben, unsre Trinkgelder einzuziehen, aber ihnen ansonsten ärgerlich waren. Die Fehlerquelle war die umständliche Art der Abrechnung, die sie unverändert von der alten Chefin übernommen hatten und die einfach nicht mehr funktionierte.

Wir setzten uns zusammen und legten eine Art und Weise der Abrechnung fest, die diese Fehlerquellen beseitigte. Diese Methode hatte den Vorteil, dass sie erstens richtig war, und zweitens die Möglichkeit offen liess, Fehlbeträge zu bemerken, eh der Z-Bon gezogen wird; das heisst aber auch, man konnte sie ausgleichen, ohne sie aus unserem Trinkgeld auszugleichen. Die Chefs billigten die Methode, weil sie nachvollziehbar richtig war, und weil die Abrechnungen danach aufgingen; wir haben ihnen natürlich nicht auf die Nase gebunden, warum wir besonders an ihr interessiert waren. Es wäre aber auch sonst nicht anders gegangen, und wir hätten es auf jeden Fall so gemacht, ob unsre Chefs das wollten oder nicht. Sie wiederum mussten tatsächlich froh sein, wenn sich die Leute wenigstens so gut als nachprüfbar an die Regeln hielten, ohne auch noch Abrechnungen zu produzieren, die das Finanzamt auf dumme Fragen bringt.

Man wird ja auch dazu angehalten, keine Fehlbons zu produzieren, sondern diese kurzerhand zu verrechnen; was streng genommen eine Anleitung dazu ist, Getränke auf eigne Rechnung zu verkaufen. Alle Chefs, wenn sie auch nur einen Funken Verstand haben, müssen das wissen. Die Belegschaft hat, was die Abrechnung angeht, nicht nur grosse Macht, sondern auch fast vollständigen Einblick in die Einnahmen.

Wenn wir zusammenlegten, was wir aus den Abrechnungen wussten, und aus den Rechnungen, die hereinflatterten, dann konnten wir eigentlich eine eigene Bilanz für den Ladens aufstellen.

6

Aber damit war noch nicht viel getan. Unsere Chefs liessen es sich einfallen, von jedem von uns 3,40 Euro pro Schicht kassieren zu wollen als Entgelt für verbilligtes Essen während der Arbeit. Ihr Steuerberater hätte ihnen gesagt, dass sie das müssen. Das traf bei uns auf helle Empörung, die natürlich drohte, die Belegschaft in einzelne Fraktionen zu spalten, je nachdem, wer in welchem Ausmass meinte, diese nebelhafte Vergünstigung zu nutzen.

Es verhält sich so, dass die Finanzämter offenbar zunächst einmal annehmen, dass die Beschäftigten in der Gastronomie eine bestimmte Verpflegung als festen Bestandteil ihres Lohns bekommen, und dass sie deswegen vom Arbeitgeber dafür eine Steuer erheben, neuerdings 3,40 Euro auf diesen vermuteten Lohnbestandteil. Und bestimmte Arbeitgeber, dies besonders nötig haben, meinen, das sich von den Beschäftigten zurückholen zu müssen. Arbeitsrechtlich ist das Unsinn, aber was interessieren sich Chefs schon fürs Gesetz, oder Steuerberater, was das angeht.

Und natürlich wird in der Gastro umsonst gefressen, wenn der Chef weg ist, und vor allem umsonst gesoffen, was reingeht. Nur deswegen gibt es so etwas wie das verbilligte Essen und Schichtgetränke, um das wenigstens ein bisschen in Bahnen zu lenken. Aber es findet eigentlich insgeheim jeder, dass die anderen viel mehr fressen und saufen. Deswegen ist zwar die Empörung über so etwas wie die 3,40 Euro ganz allgemein, aber die Schlüsse, die man daraus zieht, sind nicht allgemein, sondern tendieren dazu, die Leute auseinanderzubringen.

Oder aber man findet eine gemeinsame Antwort. Man könnte sich einfach weigern. Oder man könnte eine Gewerkschaft aufsuchen. Oder aber man könnte einen Betriebsrat gründen. Wir haben das alles ausführlich diskutiert, und das fand alles grösstenteils freundliche Aufnahme, aber keine wirkliche Begeisterung. Es war niemand dagegen, es fand niemand, dass das an sich zu weit geht. Die Idee, wir sitzen doch im selben Boot, wir sind doch so etwas wie eine Familie, das kam nirgendwo. Was kam, waren Sachen wie: da muss irgendjemand seinen Hals rausstrecken, ich weiss nicht, ob ich das tun möchte; oder auch: das muss uns klar sein, das ist eine offene Eskalation, das muss man auch erst einmal durchhalten. Wir haben dann erst einmal etwas völlig anderes gemacht, und da fing es dann an, mich selbst zu überraschen.

7

Ich hatte irgendwann angefangen, als Leiter des Tresens alle Tresenkräfte zu regelmässigen Treffen einzuladen, und der Kollege, der die ebenso unglückliche Rolle des Leiters der Küche hatte, lud zum selben Treffen die komplette Küche ein. Angefangen hatte das damit, dass wir eine grosse gemeinsame Whatsapp-Gruppe ohne Chefs aufgemacht hatten. So etwas hatte es schon früher einmal gegeben, war aber eingeschlafen, als meine Vorgängerin aufhörte. Der Laden wurde im Effekt ohnehin über Whatsapp geführt.

Wir hatten selbstverständlich Deckung für unser Treiben. Wir hatten diese Gruppe eingeführt, um die vielen banalen Informationen zu bündeln, die eine Schicht der nächsten weitergibt, nämlich wieviel Kuchen noch da ist, wo der gewaschne Salat ist, usw. Alles diese Kleinigkeiten, mit denen man doch nicht die Chefs behelligen und ihre offiziellen Whatsapp-Gruppen verstopfen muss! Das lenkt doch von ihren wichtigen Durchsagen nur ab.

Unsere Treffen hatten auch einen wichtigen betrieblichen Grund, so ein Schichtplan will schliesslich besprochen sein. Und es bietet sich doch einfach an, da gleich den ganzen Laden, nämlich Küche und Tresen zu versammeln. Und da kann man auch gleich allerhand Dinge besprechen, wie was man bei der Kasse alles nicht falsch machen darf. Das nimmt den Chefs viel Arbeit ab und hilft uns allen, zu verstehen, wie unser Trinkgeld zustandekommt; wenn ich es so einmal ausdrücken soll. Und die Zusammenarbeit zwischen Küche und Tresen muss auf jeden Fall verbessert werden. Und sie wurde verbessert, sie wurde gar so herzlich und innig!

Wir hatten von Anfang an unsere Treffen einberufen in einem anderen Laden, nämlich in dem, wo ich herkam. Da sassen wir also, unter den Augen der dortigen Mitarbeiter, und sprachen über unsern Betrieb, offen und klar; und es bestand keinen Augenblick die Gefahr, dass jemand uns verpetzt, auch nicht die dortigen Chefs. Denn unsre Chefs konnte niemand ausstehn, auch die nicht. Es war aber natürlich Absicht, dass wir uns offen trafen; wir wussten alle, dass das niemand vorher getan hatte und dass das ein schlechtes Beispiel war. Und es sprach sich durchaus herum.

8

Im Grunde gings da um alle Fragen des Betriebs. Und es passierten zwei merkwürdige Dinge. Erstens, es kamen viele von den Kollegen, und es wurden auch nicht mit der Zeit weniger, sondern mehr. Bezahlt war das natürlich nicht. Die Chefs wussten gar nichts davon. Nach ein paar Monaten kamen eigentlich alle, und die wenigen, dies nicht schafften, liessen sich entschuldigen, oder schickten sogar Dinge, die sie besprochen haben wollten. Ich habe ja allerhand Organisationserfahrung, aber ich habe nie solche Teilnahme an Versammlungen gesehen. Eine Kollegin hatte am Anfang Angst, hinzugeh; auch die war eines Tags einfach dabei, ohne grosses Trara, einfach so. Es gehörte zu einem bestimmten Zeitpunkt einfach dazu. Man kam öfter zu spät zur Arbeit als zu spät zu unsern Treffen.

Und es waren wirklich bunt zusammengewürfelte Leute, nochmal, die dann da sassen. Ein paar Studenten; ein paar, die das als Nebenjob trieben, neben was besser bezahltem; ein paar gelernte Köche; ein paar mit so eher Unterschichthintergrund; wir hatten sicherlich an sich wenig miteinander gemeinsam. Auch auf gar keine Weise ähnliche Ansichten; wir waren vielleicht drei Leute aus der linken Szene, der Rest quer durch die Parteien. Und wir drei, das war auch bemerkenswert, arbeiteten auch keineswegs untereinander besser zusammen; wie denn auch, niemand von uns hatte so etwas jemals gesehen. Wir hatten die Situation weder geplant noch herbeigeführt, wir hatten es nie für möglich gehalten, und wir hatten das genausowenig in der Hand wie die andern.

Alles, was die Kollegen sagten, war nämlich radikaler, als wir Radikalen dachten. Unsere Ideen passten auch nicht, es ging ganz anders zu. Also gut, wegen den 3,40 Euro! Wir diskutierten das in der grossen Runde hin und zurück. Und es waren die stillsten und unauffälligsten, die den Ausschlag gaben. Die sagten: nein, wir machen was anderes. Wir buchen einfach pro Schicht ein Bier oder Milchkaffee weniger. Dann haben wir das wieder drin, und unsere Chefs können sich einbilden, es geht so, wie sie es denken. Zack, war es ausgesprochen. Und ich habe so etwas nie ausgeprochen gehört. Ja, so machen das in der Gastro alle, aber es hat nie, seit ich da arbeite, einer zugegeben, dass man das so macht: und jetzt kamen sie an und sagte, seit sie die 3,40 zahlen müssen, machen sie das eh auf eigne Faust alle so, ohne es jemandem zu sagen; und zwar, weil wir meistens zwei in der Schicht sind, heisst das, wass wir uns das doppelt zurückholen. Und so haben wirs dann tatsächlich beschlossen, dass wirs machen.

Ich war am Anfang damit unzufrieden, aber ich hab mir das von den Kollegen erklären lassen: was willst du wegen den paar Pfennig eine Konfrontation, einen harten Kampf anfangen, wo du nur Ärger mit hast und am Ende nichts besseres als einen Betriebsrat? So haben wir etwas ganz anderes. Wir haben eine organisierte Belegschaft.

9

Und tatsächlich, diese ganzen Dinge, die ich von früher und von anderswo kannte, die kleinen informellen Dinge, die man so unter Kollegen tut; diese unausgesprochenen Absprachen, wie man sich gegenseitig die Scheisse vom Buckel hält, wie man unsinnige Regeln umgeht; das, was den Betrieb zwar zusammenhält, aber immer streng verboten ist; das hatten wir auf einmal, offen und ausgesprochen, und fast als feste Institution.

Wir hatten auf einmal eine Form, in der wir diese Dinge viel klarer besprechen konnten, und viel verbindlicher. Wir hatten auf einmal, ohne dass man viel machen musste, eine betriebliche Organisierung. So etwas gibt es, ich hab viel über sowas gelesen aus der operaistischen Literatur zu der Zeit, und so etwas ist immer in einem gewissen Sinne informell, aber am Ende muss es das gar nicht sein. Es ist immer so eine ungreifbare Sache, ausser dass wir das jetzt urplötzlich fix und greifbar vor der Nase haben. Ein Kollege, der versuchte, seiner Abschlussarbeit in der Soziologie aus dem Weg zu gehen, verglich das mit dem, was er aus der Betriebssoziologie wusste. Wir haben wunderbare Gespräche geführt. Aber nicht von den Gesprächen über die Wissenschaft wars, dass wir etwas gelernt haben.

Ich kannte auch die gewissermassen andere Seite von so etwas: in einem von den Mitarbeitern geführten Betrieb, ich habe in so etwas gearbeitet, man hat das früher Alternativökonomie genannt, gibt es so etwas auch, aber nicht neben dem Chef und in Konflikt mit dem Chef, sondern statt des Chefs. Und wir waren gewohnt, soweit wir diesen Dingen eine Relevanz überhaupt zugestanden haben, dass irgendwann nach einer mysteriösen Revolution die Dinge überall so aussehen würden. Niemand hat mich darauf vorbereitet, dass der selbstverwaltete Betrieb nicht das spätere Endziel ist, eine Utopie, von der man sich Wunderdinge erzählt; sondern dass er unter dem realen Konflikt schon gewissermassen besteht, dass seine Umrisse sich schon zeigen, sobald eine Belegschaft beginnt, sich zu wehren und zu organisieren; dass er das Organ des Kampfes selbst ist, und das einzige echte Organ der Arbeiterschaft. Das verlockend nahe Ziel, nicht das unerreichbar ferne, der erste Schritt und nicht der letzte.

Lege ich zuviel in diese Gespräche? Ich war überrascht, was für radikale Dinge die Kollegen sagten, die stillsten die krassesten. Wir haben offen diskutiert, dass man den Chef aus dem Laden drängen muss; zuerst Stück für Stück vielleicht nur die Dinge in unsre Hand bekommen, ihm zuletzt klarmachen, dass das für ihn keine Zukunft hat. Wir haben wirklich diskutiert, in kleinerem Kreis zuerst, in welcher Form wir als Belegschaft den Laden übernehmen würden. Das habe ich alles mir weder ausgedacht, noch habe ich es angestiftet. Ich hab natürlich meine Meinung dazu gesagt; aber wenns nicht von den anderen auch gekommen wär, wie hätte ich sie dazu bringen können? Und ich habs nicht mal als erster gesagt.

Die Wahrheit ist, ich kam selbst aus dem Staunen nicht heraus, ich war gewohnt zu denken, dass ich mich für meine Ansichten verstecken muss, dass ich unter Kollegen meinen Schnabel halte; weil ich gewohnt war zu denken, dass Leute wie ich isoliert sind. Es stellt sich heraus, das ist überhaupt nicht so, ausser in dem Sinne, dass vielleicht die meisten Leute so denken, aber alle damit isoliert sind; solange sie es nur denken, das hört aber auf, sobald sie es einmal offen aussprechen.

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Alle wissen doch, dass es ohne den Chef alles besser ginge. Alle wissen doch, dass die Arbeit im Betrieb gemacht wird von denen, die eben die Arbeit machen. Alle kennen doch die einzige Tätigkeit des Chefs, nämlich im Weg stehen; sinnlose und undurchführbare Anweisungen geben; alle wissen, dass sie immer um diese Anweisungen drumherumarbeiten. Und dass sie deswegen alle jederzeit belobigt oder gekündigt werden können.

Alle wissen das, aber womit kommen wir ihnen an? Wir kommen ihnen an mit „weisst du eigentlich, dass du auch Anspruch auf bezahlten Urlaub hast“ oder solchen ähnlichen dämlich schlauen Sachen. Klar wissen die das. Sie wissen auch, warum sie sie nicht bekommen. Aber niemand, niemand streckt seinen Kopf raus und markiert sich als den Unruhestifter für ein Stück Arbeitsrecht oder 3,40 Euro; aber für die Frage, wer das Sagen hat im Laden, setzen sie sich 500m von dem Laden entfernt in die Öffentlichkeit und lassen sich bei einer Arbeiterverschwörung zusehen.

Die Leute haben ihre Prioritäten, und man muss sich das gesagt sein lassen. Ist das am Ende das Geheimnis, warum diese Branchen so unorganisierbar sind? Wir bei uns halten die Leute für viel zu zahm, man muss ihnen immer mit weniger kommen, aber vielleicht kommt man ihnen mit zu wenig. Und das andere ist: so etwas passt in gar keine Organisation. Die Leute wollen nicht Hals über Kopf in eine DGB-Gewerkschaft, die Leute wollen auch nicht Hals über Kopf in die FAU, die Leute sind zu vielen Dingen bereit, wenn sie sie selbst machen. Wenn es darauf hinausläuft, dass ihnen irgendjemand sagt, was sie tun sollen, können die auch gleich auf ihren Chef hören.

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Die Logik und Reihenfolge ist eine andere. Wir haben nicht diskutiert, diese und jede Forderungen haben wir, zum Beispiel: wir wollen die Springerschichten mit Minimum zwei Stundenlöhnen bezahlt haben. Wir haben nicht mit einer Forderung angefangen, sondern andersherum. Wir haben uns den Dienstplan angeschaut und das Wetter, wovon da ja eigentlich der Umsatz abhängt. Und dann haben wir beschlossen, wo wir noch Schichten brauchen, und die eingetragen. Und dann waren halt die Leute da, wenn sie gebraucht wurden, oder man rief sie an. Dieser schwarze Schichtplan war zuerst Verschlussache, irgendwann hat ihn jemand kurz entschlossen aufgehängt, und damit war er inoffiziell offiziell. Dass der auch anerkannt wurde, und dass für die Bereitschaft auch etwas bezahlt wird, das würde auf kalte Weise durchgesetzt werden müssen.

Wir haben uns kurz gesagt nicht wie Bittsteller aufgeführt, sondern wie unsre eignen Chefs, und unsre Chefs haben wir behandelt nicht wie die, von denen wir etwas verlangen, sondern wie die Hindernisse, die sie sind. Und wir gingen alle ganz selbstverständlich davon aus, dass wir das können. Und weil alle fest entschlossen waren, dass das richtig so ist, deswegen hätte es richtig Ärger gegeben, wenn unsre Chefs sich offen geweigert hätten.

Das war alles völlig konstruktiv, wir waren schliesslich von dem ausgegangen, was der Betrieb braucht, und wir konnten alle das beste Gewissen der Welt haben. Die Politischen vielleicht am wenigsten, weil die schwerer aus dem Kopf bekommen haben, dass es ja eigentlich umgekehrt sein sollte. Aber was für Reden man die unpolitischeren führen hören konnte! Die hatten sich wirklich selbst radikalisiert. Da hatte jemand, nämlich eigentlich sie selbst, sie einmal nach ihrer Meinung gefragt, und sie hatten sich wirklich gute Dinge ausgedacht, und es funktionierte auf einmal vieles, was vorher nicht funktioniert hatte. Und wenn die Chefs sich daran nicht halten wollten, würde man es ihnen noch beibringen müssen.

Ich muss seitdem immer, wenn ich darüber nachdenke, aufpassen, dass es mir nicht zu Kopf steigt. Aber ich kann auch immer noch mir nicht denken, wo die Grenze gewesen sein soll, die das hätte aufhalten können. Wenn das alles so weitergegangen wäre, wäre sicherlich allerlei Frustration aufgetreten, aber die schlug einstweilen nicht gegen uns, sondern trieb uns weiter. Es wäre irgendwann zum Konflikt gekommen. Es hätte zu einem Arbeitskampf ausarten können. Es wäre eine unerhörte Machtdemonstration gewesen, es hätte Schockwellen durch die gesamte Gastro-Szene der Stadt geschickt.

Es hätten irgendwann Leute in der anderen Läden sich auf ähnliche Weise zusammengetan; das stand uns schon seit dem ersten Treffen vor Augen. Wir träumten damals manchmal von einer branchenweiten Koordination in der ganzen Stadt; von einer symbolischen Arbeitsniederlegung, nur 5 Minuten, nur als ein Zeichen der Macht. Wenn so etwas gelingt, und wenn alle sehen, dass das gelingt, was macht das mit den Leuten? Man verliert beim Nachdenken das Mass, fast den Verstand. Es ist in Wahrheit gar nicht so weit entfernt, dass Dinge stattfinden, die man sich nicht hätte träumen lassen.

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Ja, aber wieso kam es nicht dazu? Die Gastro machte im März 2020 wegen Corona zu, das war für uns noch kein grosses Hindernis, im Juni ging es wieder weiter, und unser Chef hatte nur noch mehr Dummheiten sich ausgedacht. Es war gerade der Sommer, wo die weitest gehenden Dinge passierten, in dieser Mischung aus Stillstand und Veränderung. Aber ich selber hatte mit einen Schaden eingefangen und kam aus den Krankschreibungen nicht mehr heraus; und der Nahkampf mit diesen Chefs hatte mich zermürbt, ich bin nicht gut mit Menschen, und ich kann keine Arschlöcher vertragen. Im Oktober, kurz eh alles wieder zumachte, suchte ich mir einen neuen Job. Es war eine Befreiung für mich. Wir waren weit gekommen, aber nicht weit genug; wie es den anderen ging, weiss ich nicht. Ich weiss auch nicht, wie es seither weitergeht. Wir haben miteinander offen komischerweise nur im Rahmen des alten Settings geredet; und wenn man draussen ist, ist man draussen. Ich kann mir nicht erzählen lassen, wies jetzt ist, ohne mich einzumischen; und sie könnens nicht haben, dass ich mich einmische, deswegen erzählen sie mirs nicht. Und recht haben sie. Die, die die Arbeit machen, müssen es selbst wissen. Die Arbeiterverschwörung kann keine Leute von Aussen dabeihaben. Es geht einfach nicht. Man ist entweder drinnen oder draussen.

Und ich bin fast froh, dass ich draussen bin, und dass ich vielleicht gegangen bin, als es am schönsten war. Ich habe die Freiheit, mir denken zu können, was daraus hätte werden können; ohne dass ich mir das durch die Wirklichkeit, die fast sicher unangenehmer ist, verderben lassen muss. Ist das romantisierend, verklärend, schönfärberisch? Ich glaube nicht. All diese Möglichkeiten waren da, es ist letztlich ein Zufall, wie es diesmal ausging. Aber es wird auch nicht das letzte Mal sein. Es gibt viele solcher Läden, überall ist es anders, und überall ist es gleich. Wenn es heute nicht soweit kommt, dann vielleicht morgen. Und ich muss auch nicht überall dabei sein, es geht, wenn es denn geht, genausogut auch ohne mich.

 

Filmtipp: Luft zum Atmen

40 Jahre lang hat die Gruppe Oppositioneller Gewerkschafter (GoG) bei Opel in Bochum unabhängige Betriebspolitik gemacht. Dadurch hat sie dazu beigetragen, dass die Belegschaft eine der kämpferischsten in der deutschen Automobilindustrie wurde. Sie haben z.B. erreicht, dass vor wichtigen Entscheidungen im Betriebsrat immer die Belegschaft um ihre Meinung gefragt werden musste.

Vom Rauswurf aus der IG Metall bis zur Ausreizung des Betriebsverfassungsgesetzes zu Gunsten der Arbeiter_innen, mehreren Wilden Streiks, dem beharrlichen Kampf um tägliche Arbeitszeitverkürzung, dem Versuch, eine Verbindung zwischen den GM Belegschaften in Europa herzustellen und schließlich gegen die Betriebsschließung haben die Kollegen nichts unversucht gelassen, um dem Unternehmen Zugeständnisse abzutrotzen und den kapitalistischen Normalbetrieb bei Opel zu bekämpfen.

Um diese Erfahrungen zugänglich zu machen, haben die GoG Kollegen labournet.tv beauftragt, einen Film über die Geschichte der GoG und der Bochumer Opel Belegschaft zu machen. Der Film wurde 2019 fertig gestellt.

Inspirational Quotes #2

„Die Demos kamen im Heißen Herbst. Da sind sie entstanden“, erinnert sich wiederum Parlanti. „Und sie sind nicht, wie viele behaupteten, aus Spontaneismus entstanden. Klar, der Spontaneismus war da, aber morgens gab es immer Leute, die Verantwortung übernahmen. Weil eine Demo nicht so einfach aus dem Nichts entsteht. Es waren zwar stürmische Zeiten, aber es gab immer jemanden, der das organisierte. Es war weiß Gott nicht so leicht, eine Demo zu machen. Zuallererst mußtest du alle Hallen gut kennen. Wir sagten: Morgen treffen wir uns an dem und dem Pfeiler, oder wir treffen uns alle an den Fratzen. Dort traf sich eine Gruppe von zehn, fünfzehn Leuten. Einer nahm ein Blech, ein anderer auch, und sie fingen an, draufzuhauen. Und wir liefen herum, liefen herum, bis sich die Leute von den Bändern losmachten und sich der Demo anschlossen. Den Zusammenhalt schuf der Lärm. Und du mußtest dein Hirn anstrengen und nicht einfach irgendwelche Idiotendemos machen. Du mußtest sie wegen der richtigen Sachen machen. Dann folgten dir die Leute. Es war sehr wichtig, wer sich an die Spitze der Demo setzte. Wir beschlossen zum Beispiel, morgen gehen wir ins Motorenwerk. Wir setzten uns an die Spitze der Demo und gingen ins Motorenwerk. Morgen gehen wir in die Gießerei; wir gingen in die Gießerei; wir rissen die Tore nieder. Die Demo war genau dazu da, damit sich so weit auseinander liegende Abteilungen in dieser riesigen Fabrik miteinander vereinigen konnten. Sie war dazu da, um diese Abschottungen aufzubrechen. Einem aus dem Süden war es egal, wenn ein Piemontese an der Spitze war, so wie es einem Piemontesen egal war,wenn einer aus dem Süden an der Spitze war.“
Nach und nach begann sich die Fabrik unter dem Druck dieser Angriffe zu verändern. Die Rhythmen wurden langsamer. Zum ersten Mal gab es Pausen. Der Würgegriff , in dem das Maschinensystem die Menschen hielt, lockerte sich. Die formalisierten Möglichkeiten, auf die Bandgeschwindigkeit Einfluß zu nehmen, das Entstehen einer informellen Macht, durch die die Mannschaft Kontrolle ausübte, das Auftauchen einer anderen Figur, die dem Kapo gegenüberstand und auch etwas zusagen hatte − des Delegierten − linderten anscheinend den Druck, ließen Selbstverteidigungsmechanismen greifen und schränkten die Despotie des Kommandos ein. Und mit der Fabrik veränderten sich die Menschen: „Unser eingeschrumpftes Hirn erinnerte mich manchmal an diese Vögel im Käfig, die wir freiließen, damit sie abhauen sollten, und die dann nicht mehr fliegen konnten. Das machte mich richtig traurig: ‚Mein Gott’, sagte ich mir, ‚an unser Hirn lassen sie uns nicht mal mehr denken’. Und auf einen Schlag, 1969, fing es wieder an zu funktionieren. Wir haben den Käfig geöffnet und wieder angefangen zu fliegen“, erinnert sich Rino Brunetti.

Fiat im „heißen Herbst“, Thekla 15
(1992), Wildcat-Beilage, 45 ff .

GIK-Lesekreis

Hallo,

wir finden das Buch der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK), „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung„, vielversprechend genug, um es gemeinsam zu lesen und zu diskutieren. Wir lesen es schon seit einigen Wochen immer Montag Abend und sind bereits bei Kapitel 12, Interessierte können sich aber gerne noch anschließen. Das Thema ist umfangreich genug, um uns noch ein Weilchen zu beschäftigten. Der Lesekreis findet online bzw. in Berlin statt. Schreibt uns bei Interesse an betriebe2020@gmx.de.

Ein paar Anmerkungen zur „unsichtbaren Hand des Marktes“

von Michael Schwab

Anscheinend entwickelt sich gerade eine kleine Debatte um Planwirtschaft und grundsätzliche Alternativen zur Marktwirtschaft. Es soll hier deshalb ein kleiner Kommentar zum Sammelband „Die unsichtbare Hand des Plans“ folgen, der vor kurzem im Dietz-Verlag erschienen ist.

Die Autoren untersuchen darin die Planungsprozesse im digitalen Kapitalismus mit besonderem Augenmerk auf neue, digitale technische Möglichkeiten. Die Beobachtung, dass Unternehmen wie Ikea, Walmart oder Amazon einerseits durch ihre schiere Größe zur kritischen Infrastruktur werden und andererseits Planungsprozesse durch Machine Learning bis zu einem Grad weiterentwickelt werden, dass Kundennachfrage zielsicher antizipiert werden kann, setzen die sozialistische Phantasie in Gang. Das chinesischen Modell scheint es derweil gelungen zu sein, die Vorzüge zentraler Planung mit der Flexibilität des Kapitalismus zu paaren. Der Klappentext stellt daher die Frage: „Ließen sich die neuen Technologien nicht nutzen für eine Zukunft jenseits des Kapitalismus? Und wenn ja, wie?“

„Die kybernetischen Maschinen des Kapitals und ihr vermeintliches Lösungspotenzial“, schreiben die Herausgeber Timo Daum und Sabine Nuss, „geben also Anlass, alte Fragen neu aufzugreifen und vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen eine Neuauflage der ‚sozialistischen Planungsdebatte‘ anzustoßen.“

Es finden sich in dem Band durchaus einige interessante Analysen und Kritiken des real existierenden Planungskapitalismus und -sozialismus, insbesondere auch zum hybriden chinesischen Modell. So schreibt Timo Daum, um nur ein Beispiel zu nennen, über „das neue Planen“ in China, dies sei „keinesfalls eine Rückkehr zum alten Plan, zur dirigistischen Planwirtschaft, sondern ein kybernetisches, datengetriebenes Echtzeit-Regime. Im Vergleich zu Planwirtschaften in der Sowjetunion oder in Chile zu Zeiten von Cybersyn spielen diese Plattformunternehmen, was Datenmenge und planerische Detailtiefe angeht, in einer anderen Liga. Auch auf der Zeitachse liegen Welten zwischen dem Fünfjahresrhythmus der Sowjetunion, den Quartalszahlen in der traditionellen Wirtschaft und selbst den täglich übermittelten Betriebsdaten bei Cybersyn: Heute werden planrelevante Daten im Millisekundentakt aktualisiert und in Echtzeit in die Erstellung eines neuen Plans eingespeist.“.

Es finden sich weiterhin Artikel zum Kybernetiker Georg Klaus, zur ökologischen Planwirtschaft, zu Amazon, Datengenossenschaften, den Commons, usw.

Um jedoch etwas unhöflich gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Es fällt leider auf, dass in den rund 260 Seiten ein Aspekt, der in der Frage nach Planwirtschaft eine wichtige, vielleicht sogar zentrale Rolle, spielen sollte, so gut wie gar nicht auftaucht. Die Rede ist von der Arbeitszeitrechnung, die in keinem der drei Abschnitte des Buches auftaucht, weder in „Theorie und Geschichte“, noch in „Planung im digitalen Kapitalismus“, noch in „Planung jenseits des digitalen Kapitalismus“.

Die grundsätzliche Frage, ob Geld, Ware und Kapital durch einen zentralen Planungsmechanismus ersetzt werden kann, der sich auf materielle Güterbilanzen stützt (und in Kilogramm, Liter, Meter, etc. rechnet), oder ob eine sozialistische Planwirtschaft über eine Recheneinheit verfügen sollte, die unterschiedliche Produkte durch einen gemeinsamen Maßstab vergleichbar macht (Arbeitszeit), wird in diesem Buch nicht behandelt, wie überhaupt die Warnung vor dem Auspinseln zukünftiger Gesellschaften über der Entdeckung konkreter (!) Utopie die Oberhand behält.

Der bedauernswerte blinde Fleck des Sammelbands zeigt sich bereits in den geschichtlichen Abschnitten des Sammelbandes, in den immer wieder verstreut auftauchenden Bezugnahme auf die historische Planungsdebatte („socialist calculation debate“). Diese wurde ab den 1920er Jahren unter anderem von Ludwig van Mises und Friedrich Hayek gegen die Vertreter sozialistischer Planung geführt.

Hier finden etwa die Positionen der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) keine Erwähnung, die sich eben auch in diese „socialist calculation debate“ eingemischt und in schärfster Ablehnung der bolschewistischen wie sozialdemokratischen Wirtschaftsauffassungen und mit engen Bezügen zu Marx eine Alternative ausformuliert haben. Ihre Alternative besteht, um nur einige Schlagworte zu nennen, in dezentraler kommunistische Planung auf Grundlage betrieblicher Autonomie, demokratischen Rätekongressen und Arbeitszeitrechnung. Mehr noch als andere Rätekommunisten haben sie auf die Assoziation freier und gleicher Produzenten Wert gelegt.

Diese dritte Möglichkeit, jenseits von Kapitalismus und Staatssozialismus über Planung nachzudenken, wurde erst im vergangenen Jahr durch eine Wiederveröffentlichung eines rätekommunistischen, vergessenen Klassikers wieder ins Gedächtnis gerufen,1 kam jedoch offensichtlich nicht bei den Buchautoren an.

So wird auch im Sammelband-Beitrag über Marx die Arbeitszeitrechnung mehr als stiefmütterlich behandelt. Zwar wird erwähnt, dass Marx der Auffassung war, dass in einer sozialistischen Übergangsgesellschaft zum Kommunismus „wie in der kapitalistischen Ökonomie Arbeitsquanten verglichen“ werden müssten, doch dieser Gedanke wird weder in diesem noch in den anderen Aufsätzen weiterverfolgt. Es scheint, als ob die Marxsche Zurückhaltung noch zwei Jahrhunderte später als Argument dienen soll, sich über eine Alternative nicht allzu genau Gedanken zu machen.

Das Fehlen einer konkreten Utopie wird auch deutlich im letzten und längsten Teil des Buches, der sich mit „Planung jenseits des digitalen Kapitalismus“ befasst. Bis auf den Beitrag von Jan Groos und im geringeren Maße von Jens Schröter gibt es kaum Versuche, zumindest eine skizzenhafte Konzeption einer modernen Planwirtschaft und sozialistischer Wirtschaftsrechnung zu entwerfen.

Groos stellt ganz richtig fest: „Es ist schlicht zu viel verlangt, hierzu [zur wirtschaftlichen Organisation im Sozialismus] zu schweigen und gleichzeitig zu erwarten, dass breite Massen an Menschen die bestehenden kapitalistischen Verhältnisse bereitwillig und freudig hinter sich lassen.“ Er betont dagegen die über die Kapitalismuskritik hinausgehende Frage: „Wie machen wir es denn dann?“. Um diese Frage zu beantworten, stützt er sich im Wesentlichen auf die von Daniel E. Saros entwickelte Idee einer sozialistischen Planwirtschaft, die Nachfrage nach Produkten über ein internetbasiertes Ranking in Gebrauchswertproduktion übersetzt.

Dass dieses Modell – und nicht das Arbeitszeit-Modell der GIK – das prominenteste, eigentlich einzige, Positivbeispiel dieses Buches ist, ist etwas traurig aus mindestens drei Gründen. Einerseits, weilDaniel E. Saros im September 2020 öffentlich seine Hinwendung zum wirtschaftlichen Liberalismus und Abwendung von seiner radikalen Wirtschaftsforschung bekundet hat und kurzerhand die Materialien zu seinem Modell von seiner Homepage gelöscht hat. Zweitens, weil man den Eindruck bekommt, dass viele Autoren des Bandes etwasschematisch Anleihen bei Evgeny Morozov nehmen, der in einem Aufsatz von 2019 ebendie „socialist calculation debate“ und Daniel E. Saros in den Mittelpunkt stellt.Und drittens, weil Saros auf sehr ähnliche Fragen Antworten suchte, wie die GIK, seine Antworten aber (offensichtlich auch für ihn selbst) wenigerüberzeugend ausgefallen sind.

Es sei noch bemerkt, dass das Ignorieren der Arbeitszeitrechnung auch deshalb erstaunlich ist, als sie bei Klassikern des „Computer-“ oder „Cybersozialismus“ jüngeren Datums eine zentrale Rolle spielte. So bei Autoren wie Cockshott & Cotrell („Towards A New Socialism“) oder Heinz Dieterich („Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts“).

Es ist hier nicht der Ort, um auf die großen Unterschiede zwischen dem rätekommunistischen Modell der GIK und den diversen cybersozialistischen Modellen einzugehen. Es soll hier genügen, darauf zu verweisen, dass die cybersozialistischen Modelle zu einem zentralen, potenziell enorm einflussreichen (demokratischen) Staat tendieren, der Arbeitszeitwerte berechnet sowie Produkt- und Arbeitsallokation durchführt. Im Modell der GIK dagegen sind die einzelnen oder assoziierten Betriebsorganisationen die (dezentralen) Akteure der Wirtschaft, die eigenständige Entscheidungen treffen und individuelle Produktionspläne ausarbeiten. Es ist den Produzenten selbst überlassen, ob und in welchem Maße sie sich mit anderen Betrieben zusammenschließen und Budgets für gemeinschaftliche öffentliche Betriebe bestreiten wollen. Die Initiative und Verantwortung liegt hier wesentlich bei den Betrieben, die auch selbst wesentlich an der Durchführung der Arbeitszeitrechnung beteiligt sind. Diese Idee dezentraler Produktionspläne, die sich auf der gemeinsamen Grundlage der Arbeitszeitrechnung koordinieren, unterscheidet das Modell der GIK übrigens auch von allen anderen rätekommunistischen Modellen, denen ein zentraler durchzusetzender „Masterplan“ als Herzstück der Ökonomie vorschwebt.

Das Modell der GIK wäre mit Groos, der damit eigentlich E. Saros‘ System beschreibt, treffend als „distribuierter Sozialismus“ zu bezeichnen: „Es ist ein distribuiertes, also verteiltes System, das zwar zentralen Zielen dient, der Bedürfnisbefriedigung aller, in dem aber die Koordination und Umsetzung der eigentlichen Produktion verteilt über die vielfältigen Arbeiterräte stattfindet.“

Am Ende des Buches überwiegen die (zum Großteil wohl berechtigten) Bedenken gegenüber diverse Cybersozialismen. Die Kritikpunkte lauten etwa: Probleme der Kontrolle zentraler Macht, technologischer Solutionismus, Technik- und Cyberfetischismus, Verwaltete Welt 2.0.

Es reflektiert sich in diesem Sammelband die aktuelle gesellschaftliche Erfahrung, dass, wo keine konkreten Utopien ersichtlich, am Ende nur die negative Kritik, ein „grüner“ oder sonstwie reformierter Kapitalismus, bleibt.2 Diese Buchbesprechung darf als Einladung gelesen werden, das Modell der GIK genauer unter die Lupe zu nehmen. Es scheint sich dabei um ein zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Modell dezentraler und demokratischer kommunistischer Wirtschaftsorganisation zu handeln – jedenfalls ist bisher noch keine überzeugende Kritik daran vernehmbar geworden.

Daum, Timo/Nuss, Sabine: Die unsichtbare Hand des Plans. Koordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus, Dietz Verlag Berlin, 2021, 268 Seiten

Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland): Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, Red & Black Books Hamburg, 2020, 332 Seiten


1Es handelt sich um die 2020 zum ersten Mal in deutscher Sprache erschienenen „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“ der rätekommunistischen Gruppe Internationaler Kommunisten Holland (GIK) in der zweiten Ausgabe von 1935. Die erste, im Original deutschsprachige, Ausgabe von 1930 wurde bereits in den 1970er Jahren mit einem Vorwort von Paul Mattick wiederveröffentlicht.

2Herausgeber Timo Daum wurde in einem Podcast von Jan Groos zu möglichen Alternativen zum Kapitalismus gefragt, konnte aber nur mit vielsagendem Schweigen antworten. An anderer Stelle im Interview erklärte er, dem grünen Kapitalismus die Daumen zu drücken.

Inspirational Quotes #1

Wenn ein Betrieb abgestoßen oder ausgeschlachtet werden soll, weil er auf diese Weise für Eigentümer und
Teilhabende mehr Gewinn abwirft, kann er immer noch rentabel genug sein, um der Belegschaft, wenn sie ihn rechtzeitig übernimmt, einen Lebensunterhalt zu verschaffen.

Daniel Kulla, Arbeitsplätze selber schaffen – Das argentinische Modell als Vorbild: besetzen, Widerstand leisten, weiterproduzieren, in: konkret 4/2020